Ulrike Rosenbach

Über den Tod

Gespräch zwischen
Renate Petzinger
und Ulrike Rosenbach


Das Gespräch wurde am 17. September 1995 im Kapellenhaus von Schloß Gutenbrunnen bei Homburg an der Saar geführt.


RP: Ulrike, was bedeutet für Dich der Tod?

UR: Das ist eine sehr komplexe Frage. Darüber muß man sein Leben lang nachdenken und der Gedanke verändert sich ständig.

RP: Wann hast Du zum erstenmal als Künstlerin intensiv darüber nachgedacht?

UR: Ausschlaggebend für die künstlerische Auseinandersetzung war der Tod meiner Mütter, d.h. meiner Mutter und meiner Großmutter im Abstand von einem halben Jahr. Damals, Anfang der achtziger Jahre, habe ich die beiden Arbeiten "Requiem für Mütter" und "Denkmal für eine verzweifelte Frau" gemacht.

RP: Worum geht es in diesen Arbeiten?

UR: Sie sind eingebunden in einen Werkzyklus über die Lebensalter der Frau. Das erste Lebensalter ist das des jungen Mädchens, das zweite die Begegnung mit dem Mann und das dritte die Begegnung mit der inneren Mutter oder mit der alten Frau.
"Requiem für Mütter" war eine rituelle symbolische Handlung. Mit einer Gleichgewichtsstange, wie sie sonst von Seiltänzern benutzt wird und an deren beiden Enden große Fotofahnen mit Abbildungen meiner Mutter und meiner Großmutter hingen, bin ich im Freien über sechzig Meter in der Mitte einer zweispurigen Feuerspur gegangen. Die Fahnen wurden dabei über das Feuer geschleift, waren aber so präpariert, daß sie nicht verbrannten.
"Denkmal für eine verzweifelte Frau" ist eine Videoinstallation mit einem großen Foto in der Art einer Grabplatte in der Raummitte und einem Videomonitor in einer Raumecke. Auf dem Monitor ist meine Großmutter zu sehen. Sie erzählt von ihren zwei Töchtern, die sie beide überlebt hat. An den Wänden lehnen in Wachs getauchte, steif gewordene Handtücher mit den Initialen der Frauen dieser Familie und mit Fotos von Rosenkränzen aus weißen Rosen, wie sie auf griechischen Gräbern zu finden sind.

RP: Du setzt Dich mit den Themen Deiner Arbeiten nicht nur künstlerisch, sondern auch kulturgeschichtlich auseinander. Welche Überlieferungen waren Dir bei den Arbeiten für Deine Mütter wichtig?

UR: Als Künstlerin denke ich in Bildern. Und da gibt es in den griechischen Mythen das Bild der Unterwelt. Um dorthin zu gelangen, hat der oder die Sterbende den Fluß Styx zu überqueren. Auch in denägyptischen Mythen fahren die Sterbenden auf dem Wasser in die Unterwelt. Der oder die Tote kommt in eine felsige Gegend, in der nichts wächst, in der es halbdunkel und sehr einsam ist. Und genau diese Erfahrung habe ich nach dem Tod meiner Mütter gemacht. Zwei Jahre hatte ich das Gefühl, ich gehe in die Unterwelt und sehe zeitweise gar kein Licht mehr. Es war eine sehr tiefe Erfahrung, die ich mit anderen geteilt habe. Die kannten das aus Todeserfahrungen mit engen Verwandten, die sehr identifikatorisch ablaufen, wie der Tod einer Mutter.

RP: In der giechischen Mythologie wird der Tod als der Bruder des Schlafes gesehen. Er hat dort nicht die bedrohliche Gestalt wie der mittelalterliche Sensenmann.

UR: Ich glaube, daß die griechische Auffassung damit zu tun hat, daß jede Veränderung im Leben für uns ein "kleiner Tod" ist. Man bekommt Kinder oder verliert sie, man hat Freunde oder verliert sie, alle diese einschneidenden Lebensveränderungen nennt man in der Literatur oder Mystik auch den "kleinen Tod". So könnte man sagen, daß sowohl der Schlaf als auch jede Veränderung in unserem Leben mit dem Wort "Tod" benennbar ist.

RP: Seit es Künstler gibt, haben sie sich mit dem Tod beschäftigt, in Ägypten, in Griechenland, im Mittelalter, im Barock, in der Neuzeit, aber immer auf sehr verschiedene Art und Weise.

UR: Ich habe länger über den Vergleich der Todesdarstellungen heute und in alten Zeiten nachgedacht. Ich glaube, daß es bei dem Todeskult, den wir geschichtlich kennen, vor allem um die Würde geht, um die Würde des Todes und um die Würde des Menschen im Tod. Die Erlebnisse der Menschen in früheren Zeitaltern waren unterschiedlich und es haben sich unterschiedliche Todeskulte ausgeprägt. Im Mittelalter zum Beispiel, als die Pest wütete und die Sterberate sehr hoch war, war auch die Gegenwärtigkeit des Todes sehr intensiv. Wenn die Pest durch die Lande zog, konnte man so plötzlich sterben, daß ein Symbol für die Gegenwärtigkeit des Todes ganz wichtig war. Für mich hat die mittelalterliche Darstellung des Todes als Skelettmensch, an dem es übrigens nichts Geschlechtliches mehr gibt, nach diesen Studien etwas sehr Reines und Klares bekommen. Der Knochen, dessen Fleisch längst verwest ist, hat etwas von Unsterblichkeit, weil er sehr lange hält. Das Skelett ist also auch ein Symbol der Tröstung und des Überlebens, weil es jahrhundertelang oder sogar jahrtausendelang bewahrt werden kann. Als Reliquie wurde das Skelett im Mittelalter auch so behandelt. Insofern sehe ich die Würde in dieser Darstellung des Skeletts im Mittelalter konserviert. Wir haben das in der jüngeren Geschichte auch in der Kultur von Tibet.

RP: Kannst Du diese Kultur näher beschreiben?

UR: Die Bardos im tibetanischen Totenbuch enthüllen eine Kultgeschichte vom Sterben und vom Tod, in der z.B. das Verhältnis zum Knochen des Toten sehr weit getrieben ist. Man bläst auf dem Knochen für die Toten Musik und der Totenkopf selber ist ein ganz starkes Symbol in den Ritualen für die Toten. Dazu kommt noch die Geschichte der Daquinis, das ist die Geschichte einer Frauenkultur, die sich ausschließlich mit dem Tod beschäftigt. Die Daquini ist eine weise Frau, die auf Friedhöfen lebt und mit den Toten und ihren energetischen Umgebungen verbunden ist. Überhaupt sind Todeskulte immer auch Kulte der Frauen gewesen, wie z.B. auch der Kult der Klageweiber oder der Kult des Totentanzes.

RP: Siehst Du Unterschiede in der Art und Weise, wie zeitgenössische Künstler und Künstlerinnen sich mit dem Tod beschäftigen?

UR: Wenn der Mann in die Frau nicht die Mutter projiziert, wie es etwa in südeuropäischen Ländern der Fall ist, hat er meist Angst vor dem alternden Körper der Frau. Das setzt sich häufig auch in der künstlerischen Art um, mit der Männer den Tod darstellen. Bei Jochen Gerz zum Beispiel sehe ich in der Arbeit über den Tod seiner Mutter vor allem eine Auseinandersetzung mit der Grausamkeit ihres körperlichen Verfalls. Mir selber geht es bei Arbeiten über den Tod, auch bei den Arbeiten über den Tod meiner Mütter, eher um die Gnade und die Würde des Alters, also eher um die Dokumentation und um das Sichtbarmachen der seelischen Komponenten.

RP: Und wenn Du den Tod eines Mannes darstellen würdest?

UR: Ich glaube, daß das häufig der Soldatentod wäre. Ich würde mich kritisch damit auseinandersetzen, daß der Mann als Hero der Gesellschaft stirbt.

RP: Gegenwärtig wird in den Medien der Tod wenig mit Gnade, Würde und Kultur, sondern eher mit neuem Krieg in Europa und mit alltäglicher Gewalt in Verbindung gebracht. Wie erlebst Du als Künstlerin diese Form der Auseinandersetzung mit dem Tod?

UR: Das Aufkommen neuer Kriege und die Zunahme alltäglicher Gewalt haben natürlich miteinander zu tun. Es ist für mich interessant, darüber nachzudenken, warum junge Leute im Alter meiner Studenten nach dem Trauma zweier Weltkriege heute erneut darauf kommen, einem Todeskult und einer sehr gewalttätigen Lebensweise zu frönen. Ursprünglich ging so etwas wie die Punk-Bewegung aber ihrerseits nicht aus einem Gewaltsyndrom hervor, sondern aus der Einsicht junger Menschen, daß durch Kriege, durch Atombomben und durch Atomversuche das Sterben unglaublich gegenwärtig ist und der daraus dann wiederum seinerseits hervorgegangene Sterbekult äußerte sich zunächst als Protest gegen die Selbstgenügsamkeit und den Materialismus der bürgerlichen Gesellschaft. Die Todesrituale junger Leute sind für mich insofern auch ein Verzweiflungskult. Aber gerade diese Verzweiflung gehört für mich im Moment zum Thema Tod dazu, denn die Idee des Todes ist in unserer Gesellschaft ganz generell oft gepaart mit dem Wort Verzweiflung. Im Mittelalter oder in der Zeit des Barock waren die Leute nicht so verzweifelt, sondern sie konnten sich viel mehr mit dem Tod abfinden, von der persönlichen Angst, die immer verbunden ist mit Veränderung und Tod, einmal abgesehen. Die Verzweiflung aber, daß so viel Gewalt und Kriegsgeschehen in unserem Menschenleben passiert, war damals glaube ich nicht so groß und nicht so persönlich und nicht so individuell. Ich glaube, daß sich die Menschen früher eher damit abfinden konnten, daß Tod und Leben eines sind.

RP: Warum? Weil sie gar keine andere Chance hatten? Oder aus Fatalismus?

UR: Fatalismus ist es eher heute. Man darf nicht vergessen, daß die alten Gesellschaften viel naturverbundener waren. In der Natur ist der Todesgedanke durch das Werden und Vergehen der Pflanzen und der Tiere ja viel näher. Wenn man heute in der Stadt lebt, geht einem diese Nähe ziemlich schnell verloren. Das Werden und Vergehen, der Schlamm, der Mist, die Exkremente, mit denen der Bauer sich abgeben muß, sind aber auf dem Lande heute noch so vertraut, daß man ganz ohne intellektuelle Anstrengung erfaßt, daß das Vergehen gebraucht wird, um neues Leben hervorzubringen. Das Recycling der Natur ist uns in der Stadt jedoch als Erfahrung abhanden gekommen und damit auch die Einsicht, daß Leben und Tod ein dauernder Kreislauf sind.

RP: Ulrike, Du bist in diesem Jahr dreimal zu Ausstellungen in Kirchen eingeladen worden, in Hannover, in Frankfurt und jetzt in Dortmund. Ist das Zufall?

UR: Die Kirchen machen es sich heute, in einer Zeit, in der der Staat sich mehr und mehr aus der Kultur zurückzieht, sicher nicht ohne Zufall zur Aufgabe, wieder stärker als Vermittlerin der visuellen Kultur in Erscheinung zu treten. Sie hatten seit Barlach ja für eine lange Zeit weitgehend aufgehört, sich mit Kunst auseinanderzusetzen. Heute wird die Idee, die Pater Mennikes in Köln mitgeschaffen hat, auch in evangelischen Kirchen diskutiert und beide Kirchen kümmern sich stärker um Kunst, als das in der Vergangenheit der Fall war.

RP: Hast Du das Thema Tod in Hannover und Dortmund selbst gewählt?

UR: Wenn man in einer Kirche ausstellt, ist man natürlich in besonderer Weise damit konfrontiert, denn in den Religionen geht es ja sehr stark um Geburt und Tod.

RP: Die Kirchen sind sozusagen die "Fachleute" dafür...

UR: ... es ist aber auch gut, daß sich dazu einmal jemand anderes äußert. Ich habe das Thema Tod in Hannover und in Dortmund übrigens selbst bestimmt. Vielleicht hat diese Themenwahl auch damit zu tun, daß die Zeitgeschichte und die Veränderungen zum Ende eines Jahrtausend gegenwärtig als Gedanke im kollektiven Unbewußten ganz besonders präsent sind. Das Jahrtausend stirbt und damit stirbt auch ein Stück europäischer Geschichte, die vor zweitausend Jahren mit der Geburt Christi und mit dem Ende des römischen Reiches ihren Anfang genommen haben. Und vielleicht ist ja deswegen heute auch interessant, was vor zweitausend Jahren über den Tod gesagt und gedacht worden ist.

RP: In Hannover setzt Du Dich in der Tat mit einer Vorstellung auseinander, die eng mit der Entstehung des Christentums verbunden ist. Du hast dort eine Performance-Aktion gemacht mit dem Thema "Über die Engel". Welche Rolle haben für Dich die Engel?

UR: Die Engel sehe ich als Vermittler zum Nicht-Erfahrbaren, als Transmitter im Transformationsprozeß vom Leben zum Tod. Sie sind wichtige Boten und Begleiter auf dem Wege zu dem, was als Energie und als Kraft hinter der Schranke des Todes steht. Wir sind ja nicht nur Körper und Materie, sondern auch Geist und Energie und das, was in diesem Energiefeld um uns herum unsichtbar bleibt, manifestieren wir in der Gestalt der Engel.

RP: In Dortmund zeigst Du drei Arbeiten. Eine davon ist ein großes Herzpendel von 1989.

UR: Wie das Stundenglas ist dieses Pendel ein Instrument, um Leben und Tod zu umschreiben. Sein stetiges Schwingen verkörpert so etwas wie einen unendlichen Zeitbegriff. Wenn das Pendel stehenbleibt, hört die Zeit auf, weiterzugehen. Aber die Form des Pendels bringt den Herzschlag und damit erneut das Leben in die Arbeit hinein.

RP: Dieser Stillstand der Zeit bei gleichzeitigem Dasein des Lebens ist auch Thema der zweiten Arbeit, die Du in Dortmund zeigst. Sie entstand 1994 und heißt "In a house of madness". Es sind 17 Fotoarbeiten, die als Kreuz angeordnet sind.

UR: Es ist eine Fotoarbeit über eine Performance, die ich in Clerkenwell, London, gemacht habe. Da gibt es das sehr alte Klostergelände mit der St. John's Cathedral. Die Kirche hat, glaube ich, etwas mit dem Ursprung des Malteserordens zu tun. Im Garten dieses Klosters habe ich eine Performance gemacht, bei der es um die Darstellung des Labyrinthischen im Leben ging, darum, daß der Weg vom Leben zum Tod ein labyrinthischer Weg ist. In die Performance habe ich damals auch das Kruzifix integriert, das jetzt auf dem Foto im Kreuzungspunkt der vier Flügel der Arbeit zu sehen ist.

RP: Die vier mal vier Fotoarbeiten, die die Flügel des Kreuzes bilden, zeigen computerbearbeitete Videostandbilder, auf denen Du selber bei einem Derwischtanz zu sehen bist.

UR: Der Derwischtanz ist ein Meditationstanz, der dazu dient, so ruhig zu werden, als ob die Zeit still steht. Man befindet sich bei diesem Tanz in einer Verfaßtheit, die dem Inneren eines Zyklons ähnelt. Dort ist es ja auch völlig ruhig. Dieses Stillstehen der Zeit verbinde ich mit dem Aspekt des Todes.

RP: Und wunderbaren abgestuften Rottöne auf den Videostandbildern, diese intensiven Farben des Lebens?

UR: Der Derwischtanz ist ein Kulttanz, der das Einssein von Leben und Tod zum Ausdruck bringt. Die Bewegung kulminiert im Zentrum, wo die Zeit stillsteht, aber wo das Leben gleichzeitig da ist. Und so ist Tod für viele mystische Denkweisen nicht das Ende des Lebens, sondern ein anderer Zustand von geistiger Verfaßtheit, eine Transformation, bei der der Körper verfällt, aber die Seele sich weiter erhält. Die Rottöne haben mit diesem Einssein von Tod und Leben zu tun.

RP: Die dritte und größte Arbeit, die Du in Dortmund zeigen wirst, ist neu, es ist eine Videoskulptur mit dem Titel "Über den Tod". Ein Sarkophag mit horizontal gruppierten Monitoren. Auf einer Brücke kann man diese Monitore überqueren, "über den Tod hinaus" gehen.

UR: Ich hänge von meiner Überzeugung her dem Gedanken der Reinkarnation an. Die Brücke und der Titel der Arbeit haben etwas mit diesem Gedanken zu tun. Auch das, was auf den Monitoren zu sehen sein wird, beschäftigt sich mit dem Gedanken der Reinkarnation wie auch mit den Bildern der Kulturgeschichte des Todes.

RP: Kannst Du dafür Beispiele nennen?

UR: Bei dem, was auf dem Videoband gezeigt wird, geht es wie in den anderen Arbeiten auch um exemplarische Dinge, nämlich um Zeit und um Bewegung. Denn beim Gedanken an den Tod geht es ja auch um unser Zeitverständnis. Bei dem Gedanken der Reinkarnation geht es um den endlosen Zeitgedanken, in dem das Schicksal als Rad dargestellt wird, das sich dreht. Jeder Tod zieht in diesem Gedanken eine neue Geburt nach sich, der nächste Tod folgt, die Leben reihen sich aneinander wie bei einem Schicksalsrad. Der Begriff der Unendlichkeit in der Zeit wird auch durch Drehungen und Wiederholungen eingefangen. Die Bilder selber, die auf dem Videoband verarbeitet werden, entstammen der Kulturgeschichte, wie der Totenkopf, das Skelett, das Röntgenbild oder der Lichtstrahl von Nahtoderfahrungen. Sie werden aber nicht als Zitatenfolge eingesetzt, sondern stellen ein Angebot dar für eine neue Erfahrung.

RP: Wie meinst Du das?

UR: In der christlichen Religion bedeutet der Tod immer das Ende des Körpers, man stellt sich darunter nur noch etwas Geistig-Schattenhaftes vor, das nah-am-Leben-Sein der früheren Totenkulte ist abhandengekommen. Aber die Vorstellung, daß der Tod eigentlich nichts ist, kann man visuell nicht verarbeiten. Ich wollte auch nicht wie Bill Viola oder Gary Hill mit einem Videobild kommen, das dieses Problem mittels einer völlig schattenhaften und unmateriellen Lichtgebung reflektiert. Im Sinne der Auseinandersetzung mit menschlichen Kultformen zum Thema Tod geht es mir eher um die Darstellung von etwas, was als Materie ins Leben hineinreicht, wie beispielsweise im Mittelalter der Kult des Skeletts oder auch der Kult der Haare. Der Haarkult ist ein Todeskult der europäischen Kultur, der darauf zurückzuführen ist, daß die Haare noch nach dem Tod weiterwachsen. Auch sind die Haare und übrigens auch die Zähne etwas, womit man ein Individuum indentifiziert, deswegen wurden beide zu besonders wichtigen Reliquien im europäischen Totenkult. Bei den Ägyptern ist der Totenkult direkt mit Gold verbunden, also mit Osiris. Der Mond-Aspekt der Isis kommt gar nicht zum Tragen, sondern Todeskult ist der Osiris-Kult und der ist zugleich der Kult der Sonne und des Lebens. Das Rüberholen des Sinnlichen in den Tod geschieht in Ägypten auch durch eine wunderschöne lebensfrohe Farbgebung. Dieser lebensfrohen Farbgebung entsprechen ja auch die Rottöne des Derwischtanzes in der Arbeit, über die wir vorhin sprachen. Und in die Gestaltung der Arbeit "Über den Tod" werde ich solche Farbgebungen ebenfalls aufnehmen, hier geht es aber eher um Goldtöne auf den Seitenwänden des Sarkophags.

RP: Was passiert auf und mit den Monitoren?

UR: Die 12 Monitore zeigen nicht 12 verschiedene Bilder, sondern ein Bild, das gesplittet ist. Dieses bildet eine große Fläche, die man von der Brücke aus nicht vollständig sehen kann, sondern von der das Auge immer nur einen Teil erfaßt. Dadurch, daß man sehr dicht über dieser großen Fläche ist und dadurch, daß man rechts und links nach unten schauen muß, werden die Bilder nicht wie ein normales Film- oder Videobild betrachtet, sondern sehr direkt und unmittelbar erlebt. Der skulpturale Charakter des "Sarkophags", intensiviert dieses Erleben. Durch ihn soll eine Tiefe entstehen, bei der man das Gefühl hat, in den Monitoren zu versinken, eine Tunnelerfahrung, wie man sie von Nahtoderfahrungen kennt, oder aus dem Bild vom Stundenglas, das das Salz nach unten zieht. RP: Hat dieses Versinken etwas Bedrohliches?

UR: Nein. Ich möchte mit der Arbeit Bilder über den Tod wiederbeleben, die nicht grausig sind. Was mich seit Jahren in den Medien, besonders natürlich im Fernsehen, unglaublich langweilt, ist diese Grausigkeit. Es wird uns geradezu nahegebracht, daß wir nicht mehr im Bett sterben können, weil wir jeden Abend die ermordeten Soldaten aus Jugoslawien, aus Bosnien, aus Sarajewo sehen und uns das so vertraut wird, wie die Tasse Kaffee oder das Glas Wein, die oder das wir dabei trinken. Diese Gehirnwäsche durch die Medien legt den Gedanken nahe, daß wir keine Chance haben, einen würdevollen Tod zu begehen, sondern daß das Massensterben im Krieg oder bei Naturkatastrophen oder durch kriminelle Gewalt die normale Form des Todes ist. Es gibt keine Form der Vorbereitung mehr dazu, es gibt keine Form der geistigen Auseinandersetzung mehr damit, vermittelt wird nur noch das "stell Dich darauf ein, daß der Tod in dieser Horrorform normal ist". Dazu kommen dann noch Kriegsfilme und Horrorfilme, in denen auf alptraumhafte Art und Weise gemordet und getötet wird und die der ganzen Vorstellung vom Sterben und vom Tod die Würde nehmen. Und im Gegensatz dazu möchte ich mit dieser Arbeit die geistige Auseinandersetzung mit dem Sterben und dem Tod zu etwas Würdevollem deklarieren.

RP: Es geht Dir um die Auseinandersetzung mit dem natürlichen Tod, ...

UR: ... um etwas, was zum Menschen und zu seinem Leben dazugehört. Es macht mich traurig, wenn ich mir überlege, was karmisch mit diesen Kriegs- und Horrorbildern zusammenhängt. Sie sind wirklich schlimm. Wir nennen uns Kulturwesen. Aber kein Naturvolk würde so über den Tod reden, denken und sehen, wie wir das in den Medien vorgesetzt bekommen.

RP: Der Künstler Paul Thek, der sich in seinem Werk viel mit dem Tod auseinandergesetzt hat, hat einmal gesagt: "In einem intensiv und reich erlebten Leben ist der Tod präsenter, als in einem nur dahingelebten."

UR: Wenn man intensiv lebt, setzt man sich mehr Veränderungen aus, und wenn man sich Veränderungen mehr aussetzt, ist der Tod auch präsenter. Man könnte in diesem Sinne auch sagen, die Arbeit "Über den Tod" ist eine Arbeit über das Leben.