GOTTESGARTEN, WELTENRAD UND UHRWERK

Das Weltenrad

von Regine Kather


Eineinhalbjahrtausende nach Platon verwandelt Hildegard von Bingen im Mittelalter die Metapher des Organismus auf eigentümliche Weise: Der Kosmos erscheint als Welten-rad. "Einen kreisenden Kreislauf hat dieses Firmament, als ein Gleichbild der Macht Gottes, die weder Anfang noch Ende hat, und niemand vermag zu erkennen, wo das kreisende Rad begänne, wo es ende. Gottes Thron ist ja Seine Ewigkeit, in der Er allein sitzt, und alle Lebewesen sind gleichsam Funken der Strahlung Seines Glanzes, die Ihm wie die Strahlen der Sonne entströmen."

In einem nach Hildegards Visionen gezeichneten Bild trägt die Gottheit, die alles Werden und Vergehen überragt, das Weltenrad in ihrer Brust. Der Kosmos, in dessen Mitte der Mensch steht, gleicht einem Organ Gottes. Das All ist sein Leib. Seine Arme umgreifen es in einer fast mütterlichen Geste bergend und schützend. In seiner inneren Geschlossenheit weist das Rad auf den Schöpfer zurück, der es gebildet hat. Als Werk aus einem Guß, an dem nicht viele Hände gearbeitet haben, wird es zum Zeichen der Einzigkeit Gottes. Mit seinem anfangs- und endlosen Kreislauf ist das Weltenrad Sinnbild für die zeitlose Vollkommen-heit Gottes, die alle Zeiten in sich schließt. "Die Gottheit ist in Ihrem Vorherwissen und Ihrem Wirken, gleich wie ein Rad, ein Ganzes, in keiner Weise zu teilen, weil Sie weder Anfang noch Ende hat und von niemandem begriffen werden kann; denn Sie ist ohne Zeit. Und wie ein Kreis das, was in ihm verborgen ist, in sich schließt, so schließt auch die Heilige Gottheit unbegrenzt alles in sich und übertrifft alles. Denn noch keiner konnte Sie in Ihrer Macht zerteilen noch überwinden noch vollenden."

Auf dem Hintergrund des ptolemäischen Weltbildes erscheint das All als ein Gebilde übereinandergelagerter Krei-se: Im Zentrum des Weltenrades liegt die Erde als ruhender Pol und lebendige Bewegtheit zugleich. Um die Erde konzentrieren sich die kosmischen Sphären, die in fester Ord-nung von der Atmosphäre der Erde aus bis zum äußersten Feuerrand des Weltenrades kreisen. Sie sind gebildet aus den vier Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer, die nach ihrer Schwere aufeinander folgen. Gott hat diese Welt mit den Winden verstärkt, die das Weltall im Gleichgewicht halten und es lebendig machen, es mit den Sternen erleuchtet, mit der Erde als dem Herzen des Firmaments gefestigt und mit den übrigen Geschöpfen erfüllt.

Durch die innere Ordnung der Sphären erlangt der Kosmos eine Stabilität, die der eines Rades gleicht. Das Rad, die Rota, als Symbol für die in sich gefügte Dynamik des Kosmos, sieht Hildegard nicht als mechanisches In-strument; das Rad ist Sinnbild altersloser Le-bensfülle und des ausgewogenen Spiels der Mächte der Natur: "die Gestalt der Welt existiert unvergänglich im Wissen der wahren Liebe, die Gott ist: unaufhörlich kreisend, wunderbar für die menschliche Natur und so, daß sie von keinem Alter aufgezehrt, aber auch nicht durch Neues vermehrt werden könnte, vielmehr so bleibt, wie Gott sie geschaffen hat, dauerhaft bis an das Ende der Zeit." Mit dem Wehen der Winde, die die Weltkräfte symbolisieren, beginnt sich das Weltenrad zu drehen und setzt die Zeit in Bewegung und mit ihr Entwicklung und Verfall. Das organische Leben der Natur entfaltet sich und wiederholt sich in der unaufhörlichen Rhythmik von Wachsen und Vergehen, Blühen und Verwelken und von Schlafen und Wachen. In seiner kreisenden Dynamik ist das Weltenrad Sinnbild der Zeit, der Rhythmik der Jahreszeiten und der Lebensalter. Die Kreis-bewegung, bei der das Ende immer wieder in den Anfang der Bewegung mündet, schließt alle zeitlich begrenzten Prozesse in sich. Der rollende Ablauf der Zeit führt alles, was einmal begonnen hat, unerbittlich seinem Ende entgegen.

"Inmitten dieses Riesenrades erschien die Gestalt eines Menschen. Sein Scheitel ragte nach oben, die Fußsohlen reichten nach unten... Rechts waren die Fingerspitzen der rechten Hand, links die der linken Hand nach beiden Seiten in Kreuzesform zu der Kreisrundung hin ausgestreckt. Genauso hielt die Gestalt die Arme ausgebreitet." Im Zentrum des Weltenrades steht mit erhobenem Haupt und in Kreuzes-form ausgespannten Armen und Beinen der Mensch: Die Erde mitten im Weltenrad ist die Heimat des Menschen; sie ist der Ort, wo der Mensch im tä-tigen Leben schöpferisch ist und sich in der Kontemplation zur Gottesschau aufschwingt. Die Natur wird zu einem Buch, in der der Mensch zeichenhaft die Spuren der göttlichen Ge-genwart liest. Er ist gehalten und geborgen in der Natur, die von den Händen Gottes umfaßt und getragen wird.

Noch ist dem Menschen das Gefühl der Geworfen-heit und des Unbehaust-seins, wie es Pascal zum ersten Mal schildern wird, unbekannt. "Mitten im Weltenbau steht der Mensch. Denn er ist bedeutender als alle übrigen Geschöpfe, die abhängig von jener Weltstruktur bleiben. An Statur ist er zwar klein, an Kraft seiner Seele jedoch gewaltig. Sein Haupt nach aufwärts gerichtet, die Füße auf festem Grund, vermag er sowohl die oberen als auch die unteren Dinge in Bewegung zu versetzen. Was er mit seinem Werk in rechter oder linker Hand bewirkt, das durchdringt das All, weil er in der Kraft seines inneren Menschen die Möglichkeit hat, solches ins Werk zu setzen. Wie nämlich der Leib des Menschen das Herz an Größe übertrifft, so sind auch die Kräfte der Seele gewaltiger als die des Körpers, und wie das Herz des Menschen im Körper verborgen ruht, so ist auch der Körper von den Kräften der Seele umgeben, da diese sich über den gesamten Erdkreis hin erstrecken." Wie ist es zu verstehen, daß der Mensch mitten im Kosmos steht und mit seinen Gliedern alle Sphären durchdringt? Sicher ist keine räumlich-körperliche Ausdehnung gemeint. Dem Makrokosmos entspricht der Mensch als Mikrokosmos: Als kleine Welt konzentriert er alle Bezüge in sich wie in einem Brenn-punkt. Er hat teil an den anorganischen Stoffen durch den Aufbau seines Leibes. Nach der aristotelischen Seelenlehre hat er ein Wachstumsvermögen wie Pflanzen und Gefühle wie Tiere auch. Darüberhinaus hat er durch seine Vernunft Anteil am Bereich der reinen Geistwesen, ja, sogar des Göttlichen. Der Mensch ist mit allen anderen Geschöpfen innerlich verbunden, obwohl er eine einzigartige Stel-lung hat: Nur er vereint in sich alle Elemente des Kosmos, so daß er Sinnes- und Geisteswelt verbindet und in diesem Sinne Mittel-punkt des Kosmos ist. "Gott hat ...die Gestalt des Menschen nach dem Bauwerk des Welt-gefüges, nach dem ganzen Kosmos gebildet"."Gott (hat) die gesamte Schöp-fung im Menschen ge-zeichnet. In sein Inne-res aber legte Er die Ähnlichkeit mit dem Engel-Geist, und das ist die Seele."

Alle Glieder und Handlun-gen des Menschen, von Frau und Mann, stehen in Bezug zum ganzen Kosmos. Der Geist ist mächtiger als die körperlichen Kräfte, ja er verleiht dem Körper erst seine Lebendigkeit, Sensibilität und Kraft. Bevor die Hände ein Werk ausführen, entsteht es als Vorstellung im menschlichen Geist. Er plant, wählt Ziele, entscheidet sich für Werte und gibt dem Handeln, das in den Weltenlauf eingreift, eine Richtung. Der Mensch, der alle Seinsbezüge in sich konzentriert, braucht den Makro-kosmos zur Erhaltung seines körperlichen und seelischen Gleichgewichts. Er braucht die Erde, aus der er gemacht ist, das Wasser, das als Blut in seinen Adern fließt, die Luft, die er atmet und das Feuer, das durch die Seele im Orga-nismus brennt. Schließlich braucht er die Umwelt für sein "Opus", für das schöpferische Handeln: "Auf dieser Welt hat (Gott) den Menschen mit allem umgeben und gestärkt und hat ihn mit gar großer Kraft ...durchströmt, damit ihm die ganze Schöpfung in allen Dingen beistünde. Die ganze Natur sollte dem Menschen zur Verfügung stehen, auf daß er mit ihr wirke, weil ja der Mensch ohne sie weder leben noch bestehen kann." Mensch und Natur wirken im Kosmos in einem fein aufeinander abgestimmten Gleichgewicht der Kräfte miteinander. Undenkbar ist, daß der Mensch die Natur unterjocht und ausbeutet. Er selbst kann ja nur mit dem Reichtum der Natur und der Vielfalt an Lebewesen seine eigene Freiheit und Würde entfalten: Er könnte, wie Hildegard sagt, "kein Mensch sein, wenn die übrigen Geschöp-fe nicht da wären."

Von allen Geschöpfen hat nur

der Mensch Vernunft und Hand-lungsfreiheit. Zwar wurde die Natur dem Menschen zum Nutzen, zur Selbsterhaltung und Erfüllung der leiblichen Bedürfnisse gegeben. Aber dies schließt Verantwortung für die Na-tur ein, die auf die richtige Entschei-dung des Menschen angewiesen ist. Das "freudvolle Erkennen" der Natur, von dem Hildegard spricht, kann der Mensch durch eigenmächtiges Streben nach Macht, Verfügungsgewalt und blinder Trieberfüllung verlassen. Sein Verhalten verliert das Maß, es wird unbeständig, er fühlt sich hin- und hergerissen. Der Mißbrauch der Natur schlägt wiederum auf den Menschen zurück. "Und wiederum hörte ich eine Stimme vom Himmel, die also zu mir sprach:...Mißbraucht der Mensch seine Stellung zu bösen Handlungen, so veranlaßt Gottes Gericht die Geschöpfe, ihn zu bestrafen. Und wie die Geschöpfe dem Menschen für seine leiblichen Bedürfnisse zu dienen haben, so ist doch auch nicht weniger zu verstehen, daß sie zum Heile seiner Seele bestimmt sind." Das labile Gleichgewicht der kosmischen Kräfte hat eine ausgleichende Funktion für den menschlichen Organismus. Jeder Mißbrauch verursacht ein Un-gleichgewicht der äußeren Kräfte und wirkt als Störung auf den menschlichen Organismus zurück. Der Mensch unterliegt leibhaftig dem kosmischen Kräftespiel, das er durch sein eigenes Verhalten beeinflußt. Da er ohne die übrigen Geschöpfe nicht leben kann, kommt ihre Zerstörung einer Selbstzerstörung gleich.

Was bei Platon nur anklang, ist bei Hildegard ausge-

führt: Der Kosmos ist ein labiles Gleichgewicht von Kräf-ten, das der Mensch durch sein Tun beeinflußt. Da er selbst inmitten des Kosmos lebt, wirkt sein Tun vermittels der Weltkräfte wieder auf ihn zurück. Kosmologie ist für Hil-degard nicht nur eine Beschreibung von Naturprozessen; sie umfaßt das Zusammenspiel physischer, physiologischer, seelischer und geistiger Kräfte. Das Bild der Welt als Organismus weist dem Men-schen eine ungleich höhere Verantwor-tung für sein Handeln zu, als es das Bild eines unveränderlichen Mechanismus tut. Bei der Metapher vom Kosmos als Weltmaschine und Uhrwerk, die die Neuzeit entwickeln wird, geht die gegenseitige Beeinflus-sung von physischen und psychischen Prozessen verloren.

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