GOTTESGARTEN, WELTENRAD UND UHRWERK

Bilder vom Kosmos in der Antike: Gottesgarten und Lebewesen

von Regine Kather


Überall, wo es Menschen gibt, gibt es Gärten. Jede Kultur hat ihre eigene Gartenform entwickelt, die verrät, wie der Mensch seine Stellung in der Natur sieht. Man denke etwa an die streng symmetrische Linienführung von Wegen und Pflanzungen in Frankreich, an die mittelalterlichen Gemü-se- und Kräutergärtlein der Klöster, Apotheken und Haus-halte, an die großzügigen Parkanlagen italienischer Renais-sancevillen oder englischer Schlösser sowie an die japanischen Steingärten als Orte religiöser Kontemplation. Am Beginn der jüdisch-christlichen Tradition steht das Bild des Gottesgartens, der untrennbar mit der Schöpfung des Men-schen verbunden ist. Im zweiten Schöpfungsbericht der Genesis, der vermutlich im 8.Jahrhundert vor Christus niedergeschrieben wurde, heißt es:

Am Tag, da ER, Gott, Erde und Himmel machte, / noch war aller Busch des Feldes nicht auf der Erde, /noch war alles Kraut des Feldes nicht aufgeschossen, / denn nicht hatte regnen lassen ER, Gott, über die Erde, / und Mensch, Adam, war keiner, den Acker, Adama, zu bedienen: / aus der Erde stieg da ein Dunst und netzte all das Antlitz des Ackers, / und ER, Gott, bildete den Menschen, Staub vom Acker, / und blies in seine Nasenlöcher Hauch des Lebens, / und der Mensch wurde zum lebenden Wesen.

ER, Gott, pflanzte einen Garten in Eden, Üppigland, ostwärts, / und legte darein den Menschen, den er gebildet hatte.

ER, Gott, ließ aus dem Acker allerlei Bäume schießen, reizend zu sehen und gut zu essen, / und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum / der Erkenntnis von Gut und Böse... / ER, Gott, nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, / ihn zu bedienen und zu hüten. / ER, Gott, gebot über den Menschen, sprechend: / Von allen Bäumen des Gartens magst essen du, essen, / aber vom Baum der Erkennt-nis von Gut und Böse, / von dem sollst du nicht essen, / denn am Tag, da du von ihm issest, mußt sterben du, sterben."

Inmitten der kargen und von der Sonnenglut ausgedörrten Wüstenlandschaft spielt von alters her der Garten im Leben der Orientalen eine große Rolle. In den palästinensischen Gärten wuchsen Weintrauben, Feigen-, Apriko-

sen-, Pfirsich-, Mandel-, Apfel-, Birn- und Quittenbäume. Häufig wohnten die Menschen selbst in den Gärten. Sie mußten den Garten bebauen und pflegen, die Bäume beschneiden, sie bewässern, die Früchte ernten und den Gar-ten vor wilden Tieren und Dieben schützen. Nach orientalischem Brauch durften die Gartenarbeiter nur einen Teil der Früchte essen, während die besten dem Besitzer gehörten. Um den Brunnen oder den Teich in der Mitte des Gartens wuchsen besonders schöne und kräftige Bäume. Bäume galten als Sinnbilder der Lebenskraft und der Fruchtbar-keit. Herrscher legten für ihre Gattinnen Gärten an, die die bevorzugten Plätze des orientalischen Liebeslebens waren.

Eine dieser kunstvollen Gar-tenanlagen erlangte unter dem Namen "die hängenden Gärten der Semiramis" schon in der An-tike Weltruhm. Im ersten Jahr-hundert nach Christus schrieb der jüdische Schriftsteller Fla-vius Josephus: "Nebukadnezar befahl, in der Nähe seines Palastes aus Steinen Anhöhen zu errichten, ihnen die Gestalt von Bergen zu geben und sie mit allerlei Bäumen zu bepflanzen. Auf Wunsch seiner aus Medien stammenden Gemahlin legte er ferner einen jener Gärten an, wie sie in der Heimat seiner Frau üblich waren." Semiramis, der die Gärten ihren Namen verdanken, galt in der Antike als eine mit göttlichen Kräften begnadete Frau. Allerdings war sie nicht die Gattin des babylonischen Königs Nebu-kadnezar, der im Wüstenklima Babylons blühende Gärten auf einem terrassenförmig ansteigenden Bauwerk anlegte und künstlich bewässerte.

Die belebende Wirkung, die dem Garten inmitten einer unbewohnbaren Wüstenlandschaft zukommt, macht ihn zum geeigneten Symbol für das überzeitliche Schicksal des Menschen. Das Motiv des Paradiesgartens kennt schon der akkadische Adapa-Mythos aus dem 15. vorchristlichen Jahr-hundert und das sumerisch-babylonische Gilgamesch-Epos aus dem 12.Jahrhundert. Neben der jüdisch-christlichen Pa-radieseserzählung stehen die Paradiese Ägyptens und das Goldene Zeitalter der Griechen, die Inseln der Seligen, die Gärten der Hesperiden und das Elysium.

Nach dem Genesis-Bericht war die Erde vor der Er-schaffung des Menschen eine lebensfeindliche, unbewohnbare Wüste. Weder Baum noch Strauch konnten oh-ne das lebenspendende Re-genwasser wachsen. Gott bildete den Menschen aus dem Staub der Erde, so wie ein Töpfer eine Skulptur knetet und belebte ihn durch seinen eigenen Atem. Von Anbeginn hat der Mensch einen sterblichen Leib und einen göttlichen Geist. Er braucht die Erde zum Leben und hat doch Anteil am schöpferischen Geist Gottes. Er kann nicht in der ausgedörrten, grenzenlosen Einöde der Wüste leben. Er braucht ein überschaubares Lebens-umfeld, das er im Garten Eden findet, den Gott oasenhaft aus der Wildnis ausgegrenzt hat. Der Mensch tritt in eine Ordnung ein, die er nicht selbst geschaffen hat und die er "bedienen und behüten soll", wie Martin Buber übersetzt. Obwohl er den Garten bebauen, bewässern und abernten muß, dient er nicht nur dem Erwerb des Lebensunterhaltes. In diesem befriedeten und geschützten Raum könnten die Menschen glücklich sein.

Der Name "Paradies", der aus dem altiranischen Kul-

turkreis stammt, bezeichnete ursprünglich einen von einem Wall umgebenen Baumpark. Durch diese Grenze, die einen überschaubaren Bezirk aus der formlosen, ungestalteten Weite der Welt ausgrenzt, entsteht der Garten. Im Inneren kunstvoll angelegt und nach außen gegen die Wildnis, die ihn umgibt und ständig in ihn einzubrechen droht, gesichert, wird der Garten zum Symbol der Kultur. Nicht nur Pflanzen und Tiere brauchen einen geschützten Raum, um wachsen zu können, sondern auch die Menschen. In der Geborgenheit des Gartens müssen sie ihren Lebensraum be-wußt mitgestalten. Obwohl sich im Garten die Vorstellun-gen des Gärtners spiegeln, hat er eigene ökologische Kreisläufe, die nicht künstlich verändert werden dürfen, will man ihn nicht zerstören. Der Gärtner braucht Ge-duld; er muß wachsen lassen und zuschauen können, so daß sein Verhal-ten wiederum vom Gar-ten beeinflußt wird. Der kleine Weltgarten ist auf den Menschen und der Mensch auf den Garten angewiesen. Die Vertrei-bung aus dem Paradieses-garten zeigt allerdings, daß dies Miteinander im-mer wieder neu erworben werden muß.

Der Wall, der den Garten umgibt, grenzt ihn zwar gegen die strukturlose, chaotische Wildnis ab, aber er schließt den Menschen nicht ein: Wie in allen Gärten der Vorzeit lebten die Menschen auch im Garten Eden verbunden mit den nicht-menschlichen Geschöpfen und mit Gott. Aus der unmittelbaren Gottesgegenwart, der Gottesschau, erwuchs die Seligkeit des Menschen. Er war geeint mit dem Gotteswort, das nicht nur den Garten, sondern alle anderen Geschöpfe geschaffen hatte und dem er selbst sein Leben verdankte.

Noch für Walter Benjamin ist der Paradiesgarten Sinn-bild der Einheit des Menschen mit dem Schöpfungswort, in dessen Medium er die anderen Lebewesen erkannte und benannte: Er gab ihnen den Namen, der ihnen entsprach. Benjamin schreibt in seinem 1916 verfaßten Essay "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen": "nur das Wort, aus dem die Dinge geschaffen sind, (erlaubt) ihre Benennung dem Menschen, indem es sich in den mannigfachen Sprachen der Tiere, wenn auch stumm, mitteilt in dem Bild: Gott gibt den Tieren der Reihe nach ein Zeichen, auf das hin sie vor den Menschen zur Benennung treten. Auf eine fast sublime Weise ist so die Sprachgemeinschaft der stummen Schöpfung mit Gott im Bilde des Zeichens gegeben... Die para-diesische Sprache des Menschen muß die vollkommen erkennende gewesen sein... Die Erkenntnis, zu der die Schlange verführt, das Wissen, was gut sei und böse, ist namenlos... es ist eine Erkenntnis von außen... Der Sün-denfall ist die Geburts-stunde des menschlichen Wortes...Nach dem Sündenfall aber ändert sich mit Gottes Wort, das den Acker verflucht, das Ansehen der Natur im tiefsten... Sprachlosig-keit: das ist das große Leid der Natur".

Nicht das Streben nach Erkenntnis zerstört für Benjamin die Gottesun-mittelbarkeit. Es ist die Form der Erkenntnis, die die Menschen aus dem Paradies verstößt: Sie wollen sein wie Gott, der die Welt geschaffen hat. Die Ordnung der Dinge, die sie vorfinden und in der sie leben, ohne sie geschaffen zu haben, genügt ihnen nicht. Indem sie eigenmächtig schöpferisch werden wollen, verlassen sie ihren Seinsgrund. Sie zerreißen die Einheit mit dem göttlichen Wort, in dem sie auch die anderen Lebewesen unmittelbar erkannt hatten. Das Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis zerstört nicht nur die Gottesunmittelbarkeit, sondern auch den Einklang mit der Natur, die nur noch äußerlich erkannt und benannt wird. Die Natur ist verstummt. Die fehlende Wesenserkenntnis zieht einen verfehlten Umgang mit den Dingen nach sich, so daß sich ihr ursprüngliches Zusammenspiel immer mehr verwirrt. Die Ordnung der Dinge wird zutiefst gestört.

Die jüdisch-christliche Heilsgeschichte beginnt nicht nur in einem Garten, sondern erfüllt sich auch dort: Während sich die Gräber Adams und Evas und ihrer Nachkommen außerhalb des Paradiesesgartens befinden, ist das Grab Christi in einem Garten, aber es ist offen und leer. Im Gar-ten vollzieht sich die Verwandlung vom Leben zum Sterben und umgekehrt vom Tod zum Leben. Vegetative Pro-zesse mit ihrer Rhythmik von Werden und Ver-gehen sind ein Gleichnis für Tod und Auferstehung: Ein Samenkorn, das in die Erde fällt, muß sterben, um Frucht zu tragen.

Symbolische Bedeutung erlangt auch die Verwechslung Christi mit einem Gärtner durch Maria Magdalena. Die-ses Motiv, das auch in der Kunst immer wieder verarbeitet wurde, drückt die Über-zeugung aus, daß Christus die Seelen der an ihn Glaubenden "gärtnert". Er ermöglicht ihnen, durch seine Gegenwart zu wachsen.

Für Teresa von Avila werden in ihrer Autobio-graphie Gärten vollends zu Bildern der inneren Welt, der Seelenlandschaft: Teresa beschreibt die einzelnen Etap-pen des mystischen Weges in den Bildern des Gartens und seiner Bewässerung. Am Anfang gleicht die Seele einem völlig verwilderten und ausgedörrten Landstrich. Alle Lei-denschaften, Wünsche, Gefühle und Gedanken wie Haß, Geltungsstreben, Habsucht, Mißgunst, Neid oder Verwün-schungen gehen in der Seele ein und aus. Sie überwuchern und ersticken seelische Qualitäten wie Wahrheitsliebe, Hilfsbereitschaft, Freigebigkeit, Mut oder den Sinn für Gerechtigkeit. Damit ein Mensch seelisch reifen kann, müssen die seelischen "Unkräuter" entfernt und der Boden bewässert werden. Nicht nur der Leib, auch die Seele braucht Nahrung. Ihre Nahrung ist der Geist Gottes. Nur wenn der Mensch seinen Seelengarten beackert, kann das belebende Wasser aufgenommen werden: "Der Anfänger stelle sich vor, als beginne er auf einem sehr unfruchtbaren, mit viel Unkraut überwucherten Boden einen Garten anzulegen, an dem der Herr seine Lust haben soll. Seine Majestät selbst rodet das Unkraut aus und setzt gute Pflanzen ein. Nehmen wir an, es sei dies bereits geschehen, wenn die Seele sich dem innerlichen Gebete hinzugeben entschließt und diese Übung schon begonnen hat. Als gute Gärtner haben wir sodann mit der Hilfe Gottes dafür zu sorgen, daß die Pflan-zen wachsen. Wir müssen sie darum fleißig begie-ßen, damit sie nicht verwelken, sondern Blu-men hervorbringen, die geeignet sind, durch ihren Wohlgeruch unseren Herrn zu erfreuen, auf daß er recht oft in den Garten kom-me, um sich zu ergötzen und unter diesen Tugendblumen seine Won-ne zu finden... Entweder schöpft man das Wasser mit großer Mühe aus einem Brun-nen; oder man schöpft es, wie ich selbst schon öfter getan, mit geringerer Mühe und in größerer Menge mittels eines mit Schöpfgefäßen versehenen Rades, das man dreht; ...oder endlich es ge-schieht die Bewässerung des Gartens durch einen ergiebigen Regen, wenn nämlich der Herr selbst, ohne irgendeine Be-mühung von unserer Seite, den Garten mit Wasser tränkt. Die letzte Art ist unvergleichlich besser als alle vorhergenannten."

Wie die Religion ist auch die Philosophie in ihren griechischen Ursprüngen eng mit dem Garten verbunden. Der Hain des Akademos, den Platon um 390 v.Chr. kaufte, hat über acht Jahrhunderte als Stätte der Philosophie gedient. Hier wurde eine Metapher geboren, die das Denken von Platon bis zur Gegenwart geprägt hat: Im Dialog "Timaios" schildert Platon den Kosmos als Organismus, als großes Lebewesen.

Die erste Frage ist, ob die Welt einen Anfang hat oder ob sie immer war. Alles um uns herum befindet sich in unaufhörlichem Werden und Vergehen, das irgendeine Ursache haben muß. Jeder Mensch kann auf eine unabsehbare Kette von Vorfahren zurückblicken; jeder Kristall ist aus einer Vielzahl einzelner Atome gebildet, die ihrerseits wieder entstanden sind. Die letzte Ursache allen Seins gehört offensichtlich nicht mehr zum Bereich des Werdens, sondern ist von ihm so geschieden, wie die Zeit von der Ewigkeit.

Wie kommt es, daß es überhaupt klar unterscheidbare Gestalten gibt und nicht nur strukturlose, amorphe Ma-terie und blinde Zufälle? Woher stammt die wunderbare Ordnung der Natur, die der Mensch wenigstens teilweise erkennen kann? Für Platon vollzieht sich die Weltschöp-fung, indem ein chaotisch und regellos bewegter Stoff durchformt wird. Im bloßen Chaos könnten überhaupt kei-ne Lebewesen existieren, so daß völlige Ungestaltetheit dem Nicht-Sein gleichkommt. Zu sein ist also erstrebenswerter als nicht zu sein, Gestaltetheit ist folglich besser als struk-turlose Unbestimmtheit. Der chaotische Stoff wird von zeitlosen Formen geprägt, die sich in ihn so eingraben, wie die Förmchen eines spielenden Kindes in den Sand. Diese Formen, durch die die Vielfalt der sichtbaren Dinge mit ihren charakteristischen Eigentümlichkeiten entsteht, sind Ausdruck einer göttlichen Vernunft. Der Geist, nicht die Materie, ist die gestaltverleihende Kraft.

Der Stoff, in dem sich die Urbilder der sichtbaren Dinge ausprägen, ist, wie Platon sagt, die "Amme allen Werdens". Anders als die Atome, die schon kleinste Teilchen sind, ist er eine gänzlich ungestaltete Masse mit einer eigentümlichen Ambivalenz: Als Amme ist er nährend und bergend und ermöglicht das Werden der sichtbaren Dinge; aber we-gen seiner Strukturlosigkeit muß alles Gewordene irgendwann wieder vergehen. Auch wenn die Durchformung des Chaos nie endgültig gelingen wird, ist der Kosmos nicht nur das Spielfeld zufälliger Ereignisse, sondern auch sinnvoll und gut:

Sagen wir also, aus welcher Ursache der Schöpfer das Wer-den und dieses All geschaffen hat. Gut war er, und in einem Guten entsteht nie Neid, um keiner Sache willen. Und weil er von diesem frei war, wollte er, daß alles ihm möglichst ähnlich werden sollte. Das ist der wichtigste Ausgangspunkt für das Werden der Weltordnung... Der Gott wollte nämlich, daß, wenn möglich alles gut, aber nicht minderwertig sei; er nahm deshalb alles, was sichtbar war und nicht in Ruhe verharrte, sondern sich regellos und ungeordnet bewegte, und brachte es aus der Unordnung zur Ordnung, weil er meinte, daß die Ordnung auf jeden Fall besser sei als die Unordnung."

In dem uranfänglichen Chaos entstehen mit den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde die großen stofflichen Unterteilungen der Lebenswelt. Zahlen sind die Struk-turpinzipien, die den Urstoff gliedern und den Elementen ihre innere Stabilität verleihen. Diese Zahlen dienen nicht nur dazu, schon vorhandene Teilchen abzuzählen, sondern sie bewirken, daß es überhaupt abzählbare Einheiten gibt. Die Zahlen sind den Elementen ebensowenig äußerlich, wie einem Musikstück der Rhythmus. Die innere Propor-tion bestimmt auch das äußere Verhältnis der verschiedenen Elemente zueinander. Dadurch wird die sinnlich sichtbare Welt, die dreidimensionale Räumlichkeit des Kosmos, aufgespannt. "Wie wir also am Anfang gesagt haben, waren alle diese Dinge in einem ungeordneten Zustand, als Gott in jedem einzelnen bestimmte Maßverhältnisse einsetzte, sowohl auf dieses selbst bezogen als auch gegenseitig zu anderen, und zwar...in solcher Weise, als die Dinge eben in einem bestimmten Verhältnis stehen... dann setzte (er) daraus dieses All zusammen als ein... lebendiges Wesen, das alle einzelnen Lebe-wesen, sterbliche und unsterbliche, in sich einschließt."

Nachdem die Elemente, Raum und Zeit entstanden sind, werden die unterschiedlichen Lebewesen geschaffen, ohne die der Kosmos unvollständig wäre. Platon unterscheidet vier Gattungen: Götter; Lebewesen, die die Luft bevölkern; solche, die im Wasser leben und schließlich die, die auf der Erde leben. Zu jedem der vier Elemente gehört eine bestimmte Gruppe von Lebewesen. Nur die Menschen haben an allen Elementen Anteil, so daß sie eine eigentümliche Zwischenstellung zwischen der ungetrübten Erkenntnis der Götter und dem dumpfen Fühlen und Ahnen der Tiere haben. Es ist das Los der Menschen, nach der Wahrheit suchen zu müssen.

Ohne den Kosmos mit seinen großräumigen Strukturen und Gesetzen könnte keines der Lebewesen existieren. Zur Selbsterkenntnis gehört das Wissen um die Stellung des Menschen im Kosmos. Anders als die anderen Lebewesen müssen sich die Menschen selbst orientieren. Zwei Arten von Gesetzen werden ihnen verkündet: Die Naturgesetze, die die Vorgänge der Körperwelt und den stofflichen Auf-bau des Alls regieren; und die Gesetze, die das unentwirrbare Gewebe des menschlichen Schicksals bestimmen. Wer-te wie Gerechtigkeit, Besonnenheit, Zivilcourage und Wahr-heitsliebe verleihen der Lebensweise eine Richtung, die sich aus der Erkenntnis kausalmechanischer Abläufe im Kosmos und im eigenen Leib nicht ableiten lassen. Es entspricht den höchsten Möglichkeiten des Menschen, den Ursprung allen Seins zu schauen und dadurch die innere Verwirrung der Gefühle und Gedanken zu überwinden. Die alltägliche Desorientierung, das unbehagliche Gefühl, mal hierhin und mal dorthin gezogen zu werden, verschwindet. Die Stellung des Menschen im Kosmos bestimmt auch die Ge-setze seiner Lebensweise.

Werte und Ziele dienen nicht nur dem eigenen Seelen-heil. Durch die Ananke, die blinde, rein kausalmechanisch wirkende Notwendigkeit, herrscht Unvollkommenheit in der Welt. Auch der Mensch handelt teilweise nur aufgrund äußerer Zwänge; mit seiner Vernunft kann er jedoch dem Handeln eine Richtung geben, es auf ein Ziel hinlenken, ihm Sinn verleihen. Einen Teil der Unvollkommenheit der Welt in Vollkommenheit umzuschaffen, liegt in der Macht des Menschen und ist seine Aufgabe.

In der Ordnung des Kosmos greifen Zweckmäßigkeit und unerbittlicher Zwang, sinnvolles Geschehen und blinde Will-kür ineinander. Trotz der Wirkung der blinden Notwen-digkeit hat die göttliche Vernunft im All, die dem Gesche-hen eine Richtung auf das Gute gibt, die Oberhand gewonnen. Die sichtbare Welt ist kein Räderwerk ineinandergreifender Teile, keine Maschine, in der auf nahezu unerklärliche Weise plötzlich Leben auftaucht. Das Entstehen der Lebewesen läßt sich nicht aus dem mechanischen Zu-sammenbauen einzelner Funktionselemente erklären. Die an Technik und Handwerk orientierte Vorstellung ist für Platon und etwas später für Aristoteles und die Stoiker nur eine abgeleitete und untergeordnete Form, etwas hervorzubringen. Nur die Natur, die die Vielfalt lebendiger Formen erzeugt, ist im eigentlichen Sinne schöpferisch; technische Entwürfe dagegen benutzen die Naturprozesse als Vorbilder und ahmen sie nach. Vögel waren die unübertroffenen Lehrmeister der ersten Fluggeräte.

Schöpferische Ursache des Kosmos und der vielfältigen Lebewesen ist letztlich der göttliche Geist. Alles, was er gestaltet, ist in abgeschwächtem Maße von ihm durchdrungen und lebendig. Die göttliche Vernunft durchwirkt den Kosmos ebenso wie ein von Leben durchdrungener Körper als Ganzer beseelt ist. Zu einem Organismus gehört neben den physischen Abläufen auch das seelische Erleben; auch beim Kosmos darf man sich nicht auf die Beschreibung mechanischer Prozesse beschränken, sondern muß die lebensspendende Wirksamkeit der göttlichen Vernunft wahrnehmen. Der Kosmos gleicht einem riesigen Lebewesen, bei dem alle Teile zu einer Einheit verbunden sind. Wie ein Organismus ist er ein in sich gegliedertes Ganzes, das ei-nem inneren Ordnungsprinzip folgt. So wie sich die Gestalt eines Lebewesens im Auf- und Abbau einzelner Zellen erhält, so bleibt auch die Ordnung des Kosmos im Werden und Vergehen seiner Teile die gleiche. "So darf man also... die Behauptung aufstellen, daß diese Welt durch die Vorsehung des Gottes als ein wahrhaft beseeltes und vernünftiges Wesen entstanden ist... Weil also der Gott die Welt ...dem schönsten unter den denkbaren Dingen und dem in jeder Hinsicht vollkommenen möglichst ähnlich machen wollte, schuf er sie zu einem sichtbaren Wesen, das in seinem Inneren alle Wesen enthält, die ihm von Natur verwandt sind."

Sieht man den Kosmos im Bild eines riesigen Lebewe-sens, dann sind die vielen einzelnen Lebewesen keine Fremd-körper, sondern Unterarten von ihm. Auch der Mensch ist als eines dieser Lebewesen im Kosmos beheimatet. Die Ord-nung der Welt vermittelt das Gefühl von Geborgenheit und Verläßlichkeit. Die Welt ist der Lebensraum für die unterschiedlichsten Lebewesen, ebenso wie die Stadt die geschützte Sphäre für das Zusammenleben der Menschen ist. Hier entwickelt sie die soziale Intelligenz, ohne die ein menschliches Leben unmöglich wäre. Fast ein Jahrtausend nach Platon wird der Neuplatoniker Proklos das Weltge-bäude als eine größere " Politeia", als einen größeren Staat bezeichnen.

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