MEDIENTHEORETISCHE SPIEGELKABINETTE

Ein Begriff wird Theorie

von Annette Hünnekens


Lange, bevor man sich darüber klar wurde, daß die Formel "Neue Medien" eigentlich gar keinen Inhalt hat, war sie schon eifrig in Gebrauch und mußte dort herhalten, wo man nicht genau wußte, was man eigentlich meint. Doch den begründeten Irritationen durch sog. "Neue Medien" kann man durchaus schrittweise näherkommen, nimmt man zur Kenntnis, was man in der Vergangenheit von den sie prägenden jeweils Neuen Medien zu verstehen glaubte. Es zeigt sich bereits bei den ersten Schritten, welche Unterscheidungen für die gegenwärtige Situation brauchbar sind, bei welchen man schließlich im Kontext digitaler Medien die richtigen Fragestellungen und die Neuen Aufgaben bzw. Problemstellungen erkennt.

Nehmen wir das Wort "Medien" beim Wort und suchen das, was den immer wieder Neuen Medien bei jedem ihrer Anfänge anhaftet: Die Möglichkeit und den Freiraum zur Bildung einer eigenen Theorie, deren Unterschiede sich lediglich in Art und Grad der Reflexion zeigen. Der allgemeine Wortsinn, der dem Begriff "Medium " zugrundeliegt, hat sich seit dem Eintrag in das Meyersche Konversationslexikon, 1888 bis heute gehalten.

Sowohl das lateinische Wort mit seiner Bedeutung von "Mitte", "Mittel", etwas "Vermittelndes", als auch die griechische Bezeichnung für einen, der in spiritistischem Kontakt mit einer geisterhaften Außenwelt steht, umreißt noch immer, was wir unter einem Medium verstehen. Seit 1932 hat sich jedoch ein weiterer Bedeutungskontext herausgebildet: zu der Grammatik und dem Spiritismus kommt eine physikalische Unterscheidungskomponente hinzu und unterteilt das spiritistische Feld in physikalische und paraspychologische Elemente. "Die Medien" als feststehenden Begriff gab es erst seit den fünfziger Jahren. Unter dem Stichwort "Massenkommunikation" wurden unzählige Untersuchungen und Einzelpublikationen zu den "Massenmedien", insbesondere den Printmedien, der Regenbogenpresse, dem Rundfunk und Fernsehen herausgegeben . Im allgemeinen Sprachgebrauch der Bezeichnung "Die Medien" klingt heute jedoch eher der Bereich der elektronischen Medien an: Satelliten- und Kabelfernsehen, Telefax und Computer, Video und CD-Technologie werden unter dem Stichwort "Neue Medien" versammelt und damit recht fahrlässig in einen Topf geworfen. Dies rächt sich spätestens bei dem Versuch, über Neue Medien konkrete Aussagen zu machen, ohne auf die Vergleichsformel "einerseits" und "andererseits" zurückgrei fen zu müssen.

Die Vielfalt der Auffassungen gründet sich auf den unterschiedlichen Verwendungszusammenhang der einzelnen Wissenschaften: Der Mensch als Medium evoziert nicht immer nur Okkultes! Die Sozialforschung, wie auch die Psychologie hat es mit Menschen als Versuchspersonen zu tun, als Stellvertreter einer bestimmten Gruppe zu befragender Personen. Im weitesten Sinn tritt, so verstanden, auch der Mensch auf der Bühne und im Film in der Funktion des Schauspielers einer bestimmten Rolle als künstlerisch-kommunikatives "Medium" auf. Im Kommunikationsprozeß der Pädagogik spielt der Begriff "Medium" auf mehreren Ebenen eine zentrale Rolle: Hier ist Medium "Lehr- und Lernmittel", ein Instrument kategorialer Bildung, wobei in unterschiedlicher Weise zwischen Welt und Kind medial vermittelt wird: Entweder als Instrument im Sinne von Unterrichtsmaterial, oder als Objekt im Sinne von Methode (Horst Dichanz) Indem die Medien funktional gesehen werden, erhalten sie das ihrer Wirkung gemäße Eigengewicht. Sie sind nicht neutral, da sie sich in den Inhalt einmischen. So gesehen ist es ein Verdienst der Pädagogik, das Medium dahin gebracht zu haben, auch Teil der Botschaft zu sein (Christian Dölker). Obgleich der Sozialforscher McLuhan bereits in den 60er Jahren aus dieser Medienwirkung ein totalitäres Prinzip formuliert hatte, indem er das Medium schlechthin zur Botschaft erklärte, lag es doch ursprünglich in seiner Absicht, die Naivität insbesondere gegneuber dem Fernsehen als einem objektiven Medium radikal zu durchbrechen. Sein Verdienst ist es, daß fortan das Wirkungspotential des "Mediums an sich" in Erscheinung trat. Im Bereich der Klassifikation der Medien hat die Pädagogik der 70er Jahre weit vorgearbeitet: Ihr verdanken wir eine auch heute noch plausible Einteilung der Medien, die sogar unter Hinzunahme des Universalmediums Computer ausbaufähig ist: Sie gliedert die Medien im Kommunikationsprozeß in personale und a-personale Medien, letztere in reale Gegenstände, sogenannte vortechnische (Druckmedien, Spiele, Karten) und technische Medien (auditive, visülle, audio-visülle Medien). Die Schnittmenge der beiden a-personalen Medien bildet die Menge der Apparate und Modelle, die speziell der Anschauung und dem Experiment dienen, wie Instrumente und Versuchsbaukästen. Aus heutiger Sicht müßte an dieser Stelle das Universalmedium Computer aufgrund etwa seiner Fähigkeit zur Animation und Simulation von Naturvorgängen angeführt werden.

Neben dem Medienbegriff der Sozialwissenschaften hat sich in den letzten Jahren insbesondere die Literatur- und Sprachwissenschaft mit "Medien" befaßt, indem sie ihren Gegenstand als Medium auffaßte (Werner Faulstich, Götz Grossk laus). Was auch die Musik- und Kunstwissenschaften immer schon mitreflektierten geht auf die Vorstellung des 19. Jahrhunderts zurück, daß nämlich Kunst und Gesellschaft untrennbare Einheiten sind, deren Zusammenhänge sich nach ähnlichen Strukturen organisieren (Jacob Burkhardt). Dieser Gedanke ist in unserem Jahrhundert vor allem durch die Systemtheorie zum Grundprinzip er hoben worden. Seit Habermas wird die Gesellschaft als System von Kommunikationssystemen verstanden, die untereinander durch "kommunikatives Handeln" verbunden sind. Die Systemtheorie der frühen 80er Jahre verwendet das Wort Medium entsprechend ihrer Einteilungsformen etwa des Bereichs "Kunst" in Malerei, Literatur, Tanz etc. und bezeichnet als Medium jeweils spezifische Systeme innnerhalb der Bereiche "Kunst", "Kultur" und "Gesellschaft" (Siegfrid J. Schmidt). Meint der Begriff Medium auf die Literatur bezogen "Teilsystem Literatur", so meint Medium auf die Sprache bezogen "Werkzeug der Aneignung". In beide Medientypen, Literatur und Sprache sind die gesellschaftlichen Handlungsmethoden eingeschrieben. Das jeweils verbindende Glied ist der Text, der schließlich auch im weitesten Sinne als Medium aufgefaßt wird. Die Semiotik als Lehre von den Zeichen hat im Zuge der Erforschung von Strukturen ganz unterschiedliche Erscheinungen untersucht und entsprechende Sprachen entwickelt. So ist die auf den französischen Strukturalismus zurückgehende Sprache des Films (Christian Metz), der Fotografie (Roland Barthes), aber auch der Sprache alltäglicher Zeichensysteme wie der Werb ung, der Mode oder der Freizeitparks (Jean Baudrillard, Umberto Eco) untersucht und schließlich als Medium gedeutet worden. Eine andere Richtung der zeichentheoretischen Beschäftigung mit Medien reflektiert den Begriff ähnlich wie die Ikonographie als Motivforschung der Kunstgeschichte: Unter dem Stichwort "Intertextualität und Medienwechsel" wird untersucht, welchen Veränderungen ein literarischer Stoff ausgesetzt ist, wenn er in Buchform, als Bühnenstück, im Kino oder Hörspiel vorliegt (Julia Christeva, Horst Zander).

Etwas als Medium aufzufassen basiert im sprachwissenschaftlichen Bereich immer auf der Verwendung des Begriffs als Metapher, Analogie oder Chiffre. Erka ertes Ziel ist es, Vergleichbarkeiten herzustellen, um jeweils die spezifischen Merkmale des einen oder anderen Mediums, z.B. die spezifischen Mittel des Erählens herauszuarbeiten. Die Komparatistik, ein Zweig der vergleichenden Literaturwissenschaft, hat zusammen mit den zeichentheoretischen Voraussetzungen den Grund gelegt für den Einzug der Medien als Gegenstand der Literaturwissenschaften. Schon diese unterschiedlichen Verwendungsweisen des Begriffes "Medium/Medien" deuten darauf hin, daß es "Die Medientheorie" nicht geben kann. Die verschiedenen Ansätze haben sich im Laufe der Zeit zu vier Wissenschaftsrichtungen verdichtet, in denen die Medien zentral im Vordergrund stehen: Kybernetik, Publizistik, Kommunikationswissenschaften und Soziologie. Die Kybernetik der 40er Jahre und die sich daraus etablierende Informationstheorie fragt nach dem Zeichenvorrat (3DMedium), mit dem Informationen (3DNachricht) durch Encodierung und Decodierung von einem Punkt zum anderen übermittelt werden (Oswald Wiener). Danach haben sich die Künstler und Kunsttheoretiker in den 50er Jahren diese Formulierung der Botschaft für die Beschreibung sowie die Hervorbringung künstlerischer Botschaften zu eigen gemacht (Abraham A. Moles, Herbert W. Franke, Max Bense). Der Betrachtung liegt das von der Telefontechnik abgeleitete Modell von Shannon und Weaver zugrunde, die als erste die Bedingungen von Kommunikationsabläufen durch Bezeichnungen wie "Sender", "Code", "Kanal", "Empänger" formuliert haben. Alle Abläufe der Nachrichtentechnik basieren seither grundlegend aufdiesem Modell. Die Publizistik reflektiert vor allem das technische Medium (Presse, Film, Fernsehen) in seiner Funktion als Kanal im gesellschaftlichen Kommunikationsprozeß. Die Massenmedien werden hinsichtlich ihrer Wirkung, Politik, Wissenschaft, Recht und Öffentlichkeit untersucht, wobei auf einem mittleren Abstraktionsniveau, d.h. aufgrund statistischer Häufigkeiten, Medienformen und Medieninhalte als Ausgangsdaten hinzugezogen werden. Nach dem Grad des Medieneinsatzes auf der Produktions- bzw. Rezipientenseite werden drei Grundformen der Kommunikation bzw. drei Medienarten unterschieden: Primär-, Sekundär- und Tertiärmedien. Die Kommunikationswissenschaften heben im Vergleich zur Publizistik besonders den kulturgeschichtlichen Aspekt der Medien innerhalb der Gesellschaft hervor. Gefragt wird jeweils nach der Funktion, Bedeutung und Entwicklung einzelner Medien von den Anfängen bis heute. Deshalb wird im Grunde nur diese Fachrichtung als Medienwissenschaft bezeichnet. Zu den drei Basiswissenschaften ist jüngst die Systemtheorie hinzugetreten. Dieser spezielle Zweig der Soziologie geht auf Talcott Parson zurück und stellt in das Zentrum seiner Aufmerksamkeit die Interaktion mit all ihren Auspägungen und Rückbezügen.

Wie Eingangs erwähnt, faßt die Theorie jedes gesellschaftlich relevante Handlungssystem als Medium auf, so daß abstrakte Begriffe wie "Geld", "Macht", "Einfluß" und "Wertbindung" oder "Wahrheit", "Liebe", "Kunst" und "Glaube" (Niclas Luhmann) wesenhaft als Mittel zur Vermittlung von Wirkungen erkannt werden. Der systemische Ansatz wird von der philosophischen Seite her durch die konstruktivistische Weltauffassung ergänzt (Thomas Luckmann, Peter Berger, Paul Watzlawik). Diese verwirft alle absoluten Größen und läßt Wirklichkeit oder Wahrheit, ähnlich wie die Systemtheorie, nur als Setzung, als Vereinbarung und damit als ein so oder anders geartetes Bild der Wirklichkeit gelten. Konstruktivistische Medientheorien reflektieren in diesem Sinne das technische Bild der Wirklichkeit (Siegfried J. Schmidt, Norbert Bolz). Die jüngste und bisher einzige Geschichte der Medientheorie hat Werner Faulstich, Medienwissenschaftler und Leiter des Instituts für angewandte Medienforschung Lüneburg, 1991 vorgelegt. Er gliedert die Medientheorien entsprechend ihres immer größeren Kontextes, der in die Betrachtung miteinbezogen wurde: Die frühesten Auseinandersetzungen mit Medien waren demnach Einzelmedientheorien, wie Filmtheorien oder Radiotheorien. Es folgten kommunikationstheoretische Medientheorien, die den unmittelbaren funktionalen Kontext medialer Kommunikation, z.B. des Phänomens der "Masse" mitreflektierten. Entsprechend setzten die gesellschaftlichen Medientheorien zusätzlich ökonomisch-ideologische Akzente. Die systemtheoretischen Medientheorien schließlich betonten global die Frage nach den medialen Bedingungen für gesellschaftliches Handeln, bzw. gesellschaftliche Wirklichkeit. Eine Theorie der Neuen Medien müßte, wollte sie einlösen, was sie verspricht, all diese Aspekte und Fragestellungen ihrer Vorgängertheorien Schritt für Schritt mit einbeziehen. Darüber hinaus müßte sie, um der Wesensart der Neuen Medien gerecht zu werden, die Logik des Universalmediums "Computer" etwa anhand der Ästhetik seiner Hervorbringungen ergründen und sie mit denen der nicht computerisierten Medien vergleichen. Versuche hierzu gab es längst (Norbert Bolz), jedoch können alle zu untersuchenden Bereiche aufgrund der Totalität der digitalen Kraft zur Difusion, zu den wildesten Formen eines Codemixing oder der Hybridisierung keinesfalls erschöpfend dargestellt werden. Die Digitalisierung potenziert sich selbst und alles, was sie erfaßt. I hre Komplexität manifestiert sich Neuerlich auch ad hoc in den Netzwerksystemen des Internet und transfiguriert dort, was als Information aufgefaßt und von den Teilnehmern gehandhabt werden kann.

Auf der Basis solcher phänomenologischer, aber auch historischer Analyseformen und Metadiskurse könnte sich die Worthülse "Neue Medien" mit Bedeutung füllen und auf einen aussagekräftigen Begriff gebracht werden.